Kirche ein sicherer Ort?!

Aufgrund einer Weiterbildung, die ich mache, beschäftige ich mich mit den Auswirkungen von Trauma auf unser Nervensystem. Dafür muss ich ein Buch lesen, in dem es um den Zusammenhang von Sicherheitsgefühl und Gesundheit geht.  Da dieses Buch ein Fachbuch ist, muss ich manche Stellen fünf Mal lesen, bis ich es begreife. So auch ein Satz, von dem ich euch hier erzählen will.

Damit ihr ihn nicht so oft lesen müsst wie ich, habe ich versucht, ihn verständlicher zu formulieren.

«Ständiges Evaluieren ruft in uns Empfindungen von Gefahr und Bedrohung aus. Dies kann für unsere Gesundheit ebenso schädlich sein wie politische Unruhen, Finanzkrisen und Kriege. Ständiges Evaluieren ist charakteristisch für gesellschaftliche Institutionen wie Schulen, Krankenhäuser und Kirchen.»

Vielleicht geht es euch wie mir und ihr seid nicht ganz sicher was Evaluieren bedeutet. Deshalb habe ich zur Sicherheit Google gefragt: «Evaluation oder Evaluierung bedeutet sach- und fachgerechte Bewertung und Beurteilung.»

Also in anderen Worten: Werden wir ständig bewertet und beurteilt, empfinden wir das als gefährlich und bedrohlich.

Sollte es tatsächlich stimmen, dass es in der Kirche/in Gemeinden typisch ist, dass man ständig bewertet und beurteilt wird?

Leider muss ich, je länger ich darüber nachdenke, zustimmen. Die Strukturen sind so aufgebaut, dass immer irgendjemand über den anderen wacht. Sei es ein Pfarrer oder Gemeindeleiter, ein Hauskreisleiter oder ein Freund, bei dem man sich verpflichtet hat, Rechenschaft abzulegen. Dies natürlich immer mit einer theologischen Begründung. Schliesslich sollen wir einander ermahnen und auf dem rechten Weg halten.

Unser Gottesbild ist nicht viel besser. Das Lied «Pass auf kleines Auge was du siehst» haben wir vielleicht hinter uns lassen können. Aber eine gewisse Furcht vor dem Gericht, das am Ende auf uns warten soll, haben wir dann doch. Wir leben zwar aus Gnade, aber wenn wir nicht um Vergebung bitten, sollten wir uns einen Fehltritt geleistet haben, sind wir nicht mehr sicher, was passiert. Wir behaupten Heilsgewissheit zu haben, aber irgendwie arbeiten wir doch insgeheim daran, uns zu bewähren, dass wir es verdienen, aufgenommen zu werden.

Weil wir am Ende glauben, dass Gott evaluiert – unser Leben sach- und fachgerecht bewertet und beurteilt.

Aber wer ständig beurteilt wird, fühlt sich nie sicher. Egal, wie gut die Beurteilung des anderen gemeint ist. Und sind wir mal ehrlich, wir glauben in unserem Fall beurteilt Gott, der Schöpfer des Universums, der alles durchschaut und in jedem Fall das letzte Wort hat. Das löst nicht unbedingt Sicherheit und Geborgenheit aus.

Ja, Gott richtet! Aber ich bin sicher, wir füllen diese Worte aufgrund unserer gesellschaftlichen Prägung und Erfahrung falsch. Was wäre, wenn richten etwas zurechtbringen bedeuten würde? Kennt  ihr den Ausdruck «ich richte es», wenn man sagen möchte, man bringt etwas in Ordnung?

“ Einen sicheren Freund erkennt man in unsicherer Sache “ – Marcus Tullius Cicero

Entschuldigt, ich schweife ein wenig ab. Wir waren beim Evaluieren.

Leider ist auch Prophetie Teil dieses Bewertungssystems. Wie oft wird Prophetie als Werkzeug der Evaluation benutzt: Sünde aufdecken, prophezeien, was noch fehlt, was noch zu tun ist, wo die Wurzel eines Problems liegt. Aber nicht mehr als das. Sollte Prohetie nicht Gottes Sicht aufzeigen? Lösungen bringen, Hoffnung schaffen, Potenzial erkennen und freisetzen, Gottes Liebe offenbaren? Leider ist es viel zu oft reinste Bewertung.

Während ich euch meine Gedanken schreibe, erinnere ich mich an meine ersten Kontakte mit Christen. Nicht perfekt, eigentlich im Gegenteil. Typische Teenager auf der Suche nach dem Sinn und Platz im Leben. Mit wahrscheinlich zu viel Alkohol, bunten Haaren, Sex, aber einem riesigen Herzen für jeden. Ich weiss noch, wie sehr mich diese Herzen überrascht haben. Ich kannte nur «nicht reinzupassen» und «gemobbt zu werden». Aber bei den drei Mädels, die an Gott glaubten, war ich willkommen. Das hat mir die Tür zu Gott geöffnet.

Ich erzähl euch davon, weil ich glaube, genau das wäre unsere grösste Stärke. Weil wir bedingungslos und unbewertet angenommen sind, könnten wir andere bedingungslos und unbewertet annehmen.

Wenn wir es nur schaffen könnten, unser evaluierendes, zutiefst menschliches Bild von Gott über Bord zu werfen und glauben, was Gott uns im Hohelied der Liebe über sich erzählt –

Die Liebe ist langmütig und gütig, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit, sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.

Das ist aus der Elberfelder Bibel zitiert.

Ich möchte dir die Bibelstelle noch so aufschreiben, wie ich sie im Moment verstehe:

Die Liebe verliert nicht die Geduld und ist liebevoll, die Liebe ist nicht fordernd und überrumpelt nicht, die Liebe behauptet nicht mehr zu sein als sie ist, sie achtet Grenzen, sie ist selbstlos, man kann sie nicht zur Weissglut treiben, sie rechnet Fehler nicht an, sie freut sich nicht über Ungerechtigkeit aber sie freut sich, wenn wir ehrlich sind, sie hält alles aus, sie glaubt jedem, sie hofft in jeder Beziehung, sie hart in allem aus.

Ich habe nicht den Anspruch, dass mein Verständnis dieser Stelle richtig ist, aber ich hoffe, dass es dich lockt, einen gewohnten Text mit eigenen Herzensaugen und Herzensohren zu lesen. Und vielleicht möchtest du mir in einem Kommentar schreiben, was dein Herz anfängt neu zu lesen bei diesem Text.

Ich wünschte mir, dass Kirche und Gemeinde ein Ort der Sicherheit werden. Und deshalb wünsche ich mir, dass jeder einzelne Mensch in Berührung kommt mit dieser Liebe. Denn dann müssen wir nicht mehr bewerten und beurteilen. Und wir erkennen, dass Gott es auch nicht tut.

In diesem Sinn wünsche ich dir eine Begegnung mit der Liebe in Person.

Lass mich wissen was du denkst, …