Gerechtigkeit?!

«Ich halte dich mit der rechten Hand meiner Gerechtigkeit.»

Diesen Satz aus Jesaja 41 habe ich vor ein paar Tagen in einem Dialog mit Gott gehört.

Gerechtigkeit – ein grosses Wort. Vielleicht liegt es an meiner Arbeit. Ich höre vielen Herzen zu, die sich nach Gerechtigkeit sehnen. Herzen, die sich wünschen, dass Gott eingreift. Wenn er «damals» schon nichts gemacht hat, dann doch zumindest jetzt – endlich!

Es gibt Herzen, die sich wünschen, dass der Täter*in endlich bestraft und zur Rechenschaft gezogen wird. Denn er soll nicht einfach so davonkommen. Gottes Satz über Gerechtigkeit brachte mir die Sehnsucht meiner Klienten vor Augen.

Aber nicht nur. Sie weckte vor allem meine eigene Sehnsucht nach Gerechtigkeit mit allen schönen und unschönen Gedanken und Gefühlen, die darin stecken.

Deshalb stellte ich ihm die erste Frage:

«Was meinst du mit Gerechtigkeit?» Ich muss zugeben, diese Frage war gefüllt mit Emotionen. Unausgesprochene Enttäuschung, gewürzt mit einem Hauch Sarkasmus. Aber auch ernsthafte Hoffnung und Sehnsucht nach Ruhe für mein Herz.

Die Antwort stellt seit dem Gespräch mein Denken auf den Kopf.

Ich will euch teilhaben lassen. Entscheidet selbst, ob das Gott gewesen sein kann.

Gott definierte Gerechtigkeit für mich neu.

Er sagte, Gerechtigkeit verschafft zu bekommen, bedeutet gehört zu werden, wo man nicht gehört wurde, gesehen zu werden, wo andere nicht hingeschaut haben und geheilt zu werden, wo wir zerbrochen sind. Hatte mir Gott da erklärt, dass sein Verständnis von Gerechtigkeit nicht ist, den andern zu bestrafen, sondern sich um mich zu kümmern und mich wiederherzustellen?

Ja, er erklärte mir, dass es bei Gerechtigkeit nicht darum geht, die zu bestrafen, die an mir Schuldig geworden sind, sondern Wiedergutmachung zu leisten FÜR MICH. Wieder-gut-machen!

Was braucht es, um ein Herz wieder gut zu machen, wieder herzustellen?

In Gedanken stand ich plötzlich in einem Gerichtssaal. Wenn ich an ein Gericht denke, dann denke ich an Strafe. Eine Verhandlung hat dann Gerechtigkeit gebracht, wenn der Täter bestraft und das Opfer Recht bekommen hat. Oder nicht? Egal, ob es um Steuerhinterziehung (Staat-Bürger), Vergewaltigung (Täter-Opfer), oder einen Nachbarschaftsstreit (böser Nachbar-guter Nachbar ;-)) geht.

Bei diesem Gedankenspiel ist mir aufgefallen, es geht nicht einfach darum, dass der Täter bestraft wird. Würde der Täter einfach nur bestraft werden, würde ich auf dem Leid in meinem Herzen sitzen bleiben. Jedes Opfer sehnt sich letztlich nach Wiedergutmachung, Entschädigung, Rückzahlung, Genugtuung. Wird der Andere bestraft, habe ich die Chance zu spüren, dass ich in meinem Schmerz und Leid gehört und gesehen worden bin. Es wurde nicht verleugnet, abgestritten, oder als unwichtig betitelt. Man hat mich wahrgenommen. Und das ist ganz wichtig, wenn unser Herz heilen soll.

Ich fange an zu begreifen, wie genial Gottes Definition von Gerechtigkeit ist. Er sieht und hört uns nicht nur. Sondern zu seiner Gerechtigkeit gehört auch wiederherzustellen. Er bleibt nicht stehen bei Sehen und Hören meines Schmerzes, er bietet mir den ganzen Weg an, indem er sagt, er will Zerbrochenes heilen.

“ Zeige mir deine Narben, damit ich weiss, wo ich dich am meisten lieben muss. “ – Unbekannt

Die ganze Sache mit der Strafe war für mich noch nicht ganz geklärt. Das lag daran, weil sich in mir etwas geregt hat, dass trotz aller Wiedergutmachung, Strafe fordert für die Bösen. Oder in anderen Worten: Nur weil ich Aussicht habe auf Wiederherstellung, sollen die andern trotzdem nicht einfach davonkommen.

Vielleicht kein christlich sozialisierter Gedanke, aber Teil meines Herzens. Und Gott war so lieb, mir auch darauf zu antworten.

Er hat mich an 1. Johannes 3, 18-24 erinnert. Hier ein kleiner Ausschnitt davon:

«… dass, wenn unser Herz uns verurteilt, Gott größer ist als unser Herz und alles kennt. Geliebte, wenn unser Herz uns nicht verurteilt, so haben wir Freimütigkeit zu Gott …»

Ich beschäftige mich seit Jahren immer wieder mit diesen Versen, weil sie etwas  über die Tiefen unseres Herzes verraten. Es geht darum, dass unser Herz uns verdammt. Kennt ihr diese Fehler, Peinlichkeiten und Versagen, die einem immer wieder einfallen und mürbe machen? Wie ein Stein im Schuh, der einen quält beim Laufen? Kennt ihr das Gefühl, vor Scham niemandem mehr unter die Augen treten zu wollen? Habt ihr auch Dinge in eurem Leben, die ihr euch selbst nicht vergeben könnt? Wir schieben das gerne dem Teufel zu, der uns anklagt. Aber wir lesen in diesen Versen, dass es unser Herz ist, das uns verurteilt. So sehr, dass es uns die Freiheit nimmt, zu Gott zu rennen.

Ich hatte irgendwie das Gefühl, Gott will mir mit diesen Versen sagen, dass wir selbst die Strafe übernehmen. Dass das Urteil, das wir über uns fällen oder anders gesagt, das Gewissen, dass uns anklagt, Strafe ist.

Auch diese Antwort machte für mich erstmal Sinn.

Aber ich musste an Menschen denken, die ihre Schuld nicht einsehen. Deren Gewissen scheinbar defekt ist. Sei es der Mörder, der kein Schuldgefühl mehr besitzt. Der Ehepartner, der den andern halb tot geprügelt hat und behauptet, es wäre verdient. Oder der Hauskreisleiter, der dir eine Sünde unterstellt hat, die du gar nicht begangen hast, und in seiner Mühe, allen auf den richtigen Weg zu helfen, nicht merkt, wie sehr er verletzt.

Was ist mit denen?

Gott erinnerte mich an eine Betäubung beim Zahnarzt. Es tut zwar nicht weh, aber der Schmerz ist trotzdem da. Das merkt man spätestens, wenn die Betäubung nachlässt und wir die Nachwehen noch spüren. So ist es auch bei einem abgestumpften oder betäubten Gewissen. Wir spüren zwar weniger, aber es ist immer noch da.

Viel wichtiger als diese Erklärung war aber eine Erkenntnis, die ich daraus gewonnen habe. Mir reicht nicht, dass ich gesehen und gehört werde in meinem Leid. Ich muss auch erleben, dass Gott die Ungerechtigkeit, die man mir angetan hat beim Namen nennt. Wir brauchen es, dass wir einen Fürsprecher haben, der anerkennt, dass es ungerecht und böse war, was uns zugestossen ist. Der uns Gerechtigkeit verschafft, in dem er Böses böse nennt, und es nicht verharmlost.

Ich glaube, wir sind dann wirklich fähig zu vergeben, wenn wir erleben, dass Gott das Böse sieht und das Leid, das daraus entstanden ist, erkennt. Denn dann hat uns Gott  ein ganz wichtiges Stück des Weges zur Gerechtigkeit getragen, und wir können uns auf unsere Wiederherstellung konzentrieren.

Auch wenn noch nicht alle Fragen geklärt sind für mich, muss ich zugeben, ich finde die neu gewonnene Definition von Gerechtigkeit genial.

Machen meine Gedanken Sinn? Lass mich wissen, was du denkst …