Auch gelitten?!

Anlässlich des Anschlags auf eine Synagoge in Halle an der Saale pausiere ich unsere Gebetsreise und will euch an ein paar Gedanken teilhaben lassen zu Deutschland.

Es ist ganz schrecklich, was passiert ist! Ich bin sprachlos und voller Mitgefühl für alle Betroffenen. Und ich möchte an dieser Stelle betonen, dass ich mit dem jüdischen Volk  stehe und mich, durch meinen Glauben, auch verbunden weiss und bin. Der Gott, an den ich glaube, hat das jüdische Volk gewählt als seine Heimatnation und mit ihnen einen ewigen Bund geschlossen.

Ich, als Deutsche, bin tief betroffen über das, was in Deutschland passiert ist. Mir gehen unzählige Gedanken durch den Kopf. Was ist los, dass so etwas immer noch passieren kann? Wie kann es immer noch Menschen geben, die so etwas tun? Wann hört dieser Antisemitismus endlich auf?

Gestern Abend, während ich wieder solche Fragen wälzte, formte sich in meinem Kopf eine Idee, eine These – Gedanken, die ich mit euch teilen möchte. Und mich interessiert, was ihr dazu sagt.

Was wäre, wenn Deutschland eine Person wäre.

Dann wäre sie vor 80 Jahren schuldig geworden, weil sie einem Versprechen eines Verrückten geglaubt hat und sich dazu bringen lies, abscheuliche Dinge zu tun.

Dann wären ihre Hoffnungen auf ein erfolgreiches, erfülltes und bedeutendes Leben zerstört worden, weil sich die Versprechen als Verführung entpuppt hätten.

Und dann müsste sie mit dem Schmerz über diesen Verlust zurechtkommen, mit der Scham leben, verführt und benutzt worden zu sein. Und mit der Schuld umgehen, völlig wahnsinnig gehandelt zu haben, weil sie auf eine unmenschliche Art getötet und gefoltert hat.

Diese Person wäre hochgradig traumatisiert, Täter und Opfer zugleich!

Sie müsste sich den völlig zurecht gemachten Vorwürfen stellen, während sie selbst auch missbraucht wurde.

Ich nehme an, eine solche Person wäre völlig verwirrt und orientierungslos. Sie müsste ihren Schmerz zur Seite schieben und versuchen wieder auf die Beine zu kommen. Ihre Schuld wäre allen vor Augen, diese könnte sie nicht zur Seite schieben. Ich vermute, eine solche Person müsste versuchen, Strategien zu entwickeln mit diesem Trauma umzugehen.

Sie würde versuchen zu leugnen, zu vergessen, sich nicht mehr vertrauen, verharmlosen, sich selbst geisseln, sich verachten … Sie würde, geht man von Trauma aus, Erlebnisse abspalten und separieren.

Diese Person hätte Persönlichkeitsanteile in ihrem Herzen, die sie zutiefst verabscheut und hätte sicherlich ein riesiges Problem mit den eigenen Grenzen. Wahrscheinlich hätten die Erlebnisse und die wahnsinnigen eigenen Taten sie völlig grenzenlos gemacht.

Mir ist sehr bewusst, dass diese Gedanken herausfordernd sind. Man könnte vielleicht denken, ich versuche etwas zu entschuldigen. Aber das ist wirklich nicht mein Ziel. Ich suche lediglich nach Worten für das, was ich empfinde.

Ich wünsche mir, dass Deutschland wieder spüren kann, wie wertvoll und liebenswert es ist. Ich wünsche mir, dass Deutschland erkennen kann, wie Gott diese Nation sieht. Und Menschen, die rassistisch und antisemitisch sind, zur Besinnung kommen können. Eigentlich wünsche ich mir inneren Frieden für diese – meine – Nation.

„She remembered who she was and the game changed“ – Lalah Deliah

Ich weiss, dass in der Vergangenheit viel Busse getan wurde über all der Schuld, die auf Deutschland liegt. Dass viele einzelne, mich inklusive, um Vergebung gebeten haben für unsere Väter, Grossväter, Urgrossväter. Ich ahne, wieviel Tränen geflossen sein müssen, denn die Schuld ist unfassbar gross.

Aber ich realisiere auch, wieviel Angst ich habe beim Schreiben dieses Blogs. Angst verurteilt zu werden, weil ich überlege, ob es nicht nur Schuld ist, die Deutschland quält, sondern auch Leid. Angst, weil ich fürchte, jemand könnte denken ich verharmlose oder rechtfertige etwas ganz Schreckliches.

Am Ende habe ich einfach Angst davor, als Deutsche auszusprechen, dass wir eventuell nicht nur Täter, sondern auch Opfer sein könnten. Darf das ein Volk, das solch Schreckliches getan hat? Hat ein Volk mit so grosser Schuld das Recht zu sagen, dass es auch gelitten hat?

In meinem Innern formt sich ein NEIN, denn das ist für mein kleines Herz zu viel des Guten. Und ich ahne, dass es vielen von euch auch so geht.

Aber ich frage mich, ob es trotzdem so ist. Trotz, dass mein Herz zu klein ist, bräuchte Deutschland vielleicht den Blick auf das Leid und den Schmerz. Und die Möglichkeit sich einzugestehen, dass es nicht nur Täter, sondern auch Opfer war und Mitgefühl anderer bräuchte.

Mich interessiert, wie Gott darüber denkt.

Ich finde, das sollten wir ihn dringend fragen.

Was denkst du über meine Gedanken? Wie geht es dir mit dem Anschlag in Halle?

Was denkst du, darf jemand, der sich so schuldig gemacht hat, auf Mitgefühl hoffen?

Lass es mich wissen …!